Gespannt wie ein Wurm zwischen zwei Vögeln reiste ich nach Zürich an die ETH, um am Workshop «Biomarkers arising from nonlinear analysis of movement variability» teilzunehmen. Was mich inhaltlich genau erwarten würde und ob meine mathematischen Grundkenntnisse ausreichen würden war noch ungewiss.
Der Workshop wurde von Prof. Nick Stergiou unter der Anwesenheit von ca. 40 TeilnehmerInnen aus 12 Nationen eröffnet. Grundlage des Workshops war die Theorie der optimalen Bewegungsvariabilität (Stergiou et al., 2006), welche postuliert, dass funktionierende, anpassungsfähige und gesunde Systeme über ein optimales Mass an Variabilität (Complexity) verfügen. Zu wenig Variabilität (hohe Predictability) oder zu viel Variabilität (Randomness) sind daher charakteristisch für eingeschränkte, ungesunde Systeme. Mit dieser Theorie als Basis wurden in den vier Tagen verschiedene nicht-lineare Methoden behandelt, mit denen man Bewegungsvariabilität messen kann.
Am ersten Tag wurden «Local divergence exponents» (aka «Lyapunov exponents») vorgestellt, welche für die Quantifizierung der Gangstabilität benutzt werden können (Bruijn et al., 2012). Take-home-message des Tages war, dass die Wahl der Parameter bei der Berechnung keine allzu grosse Rolle spielt, solange diese für Vergleiche (innerhalb einer Studie) immer gleichbleibend sind.
An Tag zwei war «Sample entropy» das Thema. Entropie Masse gibt es zahlreiche, die jedoch immer versuchen, die Vorhersagbarkeit von Zeitreihen zu quantifizieren und als Mass für die Komplexität dienen. Hier war die Quintessenz, dass man bei der Verwendung von «Sample entropy» eine Spannbreite an Parametern für die Berechnung ausprobieren sollte, um zu schauen, ob sich die Resultate und die Interpretation dadurch verändern. Schlussendlich kann «Sample entropy» mehr als relativer als als absoluter Wert interpretiert werden (Yentes & Raffalt, 2021).
Tag drei stand im Zeichen der «Recurrence plots» und wurde von Dr. Norbert Marwan, Klimaforscher vom Potsdam Institute for Climate Impact Research, geleitet. Es wurde klar, dass «Recurrence plots» ein Tool für zahlreiche Anwendungen ist (Marwan et al., 2007). Beispiele aus der Bewegungswissenschaft sind jedoch leider eher noch spärlich vorhanden.
Am letzten Tag wurden Fraktale zur Beschreibung von Komplexität behandelt. Hauptsächlich lernten wir die «Detrended fluctuation analysis» kennen (Kantelhardt et al., 2001). Auch diese Methode kann auf Bewegungsdaten angewandt werden und kann komplexe, gesunde Systeme von ungesunden Systemen unterscheiden.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nicht-lineare Methoden in der Bewegungswissenschaft noch in den Kinderschuhen stecken, jedoch ein grosses Potential aufweisen, da Dinge beschrieben werden können, welche mit herkömmlichen, linearen Methoden schlicht nicht erfassbar sind. Trotz den Fortschritten in diesem Gebiet in den letzten Jahren, ist die Hürde zur Implementierung in den klinischen Alltag noch nicht genommen. Hier liegt es an der jetzigen Generation, diesen Transfer voranzutreiben.
Einen herzlichen Dank an die GAMMA für die Unterstützung in Form eines Weiterbildungsstipendiums.
Bruijn, S. M., Bregman, D. J. J., Meijer, O. G., Beek, P. J., & Van Dieën, J. H. (2012). Maximum Lyapunov exponents as predictors of global gait stability: A modelling approach. Medical Engineering & Physics, 34(4), 428–436. https://doi.org/10.1016/j.medengphy.2011.07.024
Marwan, N., Carmenromano, M., Thiel, M., & Kurths, J. (2007). Recurrence plots for the analysis of complex systems. Physics Reports, 438(5–6), 237–329. https://doi.org/10.1016/j.physrep.2006.11.001
Stergiou, N., Harbourne, R. T., & Cavanaugh, J. T. (2006). Optimal Movement Variability: A New Theoretical Perspective for Neurologic Physical Therapy. Journal of Neurologic Physical Therapy, 30(3), 120. https://doi.org/10.1097/01.NPT.0000281949.48193.d9
Yentes, J. M., & Raffalt, P. C. (2021). Entropy Analysis in Gait Research: Methodological Considerations and Recommendations. Annals of Biomedical Engineering, 49(3), 979–990. https://doi.org/10.1007/s10439-020-02616-8